Ellen Feldman: Scottsboro

1931 befinden sich Victoria Price und Ruby Bates auf dem Heimweg von Chattanooga. Sie reisen mit einem Frachtzug, in dem sie gar nicht sein dürften, denn sie haben die Staatsgrenze in „unmoralischer Absicht“ passiert – beide verdienen ihr Geld gelegentlich mit Prostitution. Mit an Bord sind etliche Jugendliche und junge Erwachsene, Weiße und Schwarze. Zwischen den beiden Gruppen bricht über eine Kleinigkeit ein Kampf aus, der schnell eskaliert. Der Zug hält mitten im Nirgendwo in der Nähe von Paint Rock und ein wütender Mob, bewaffnet mit Gewehren und Stöcken, will den Schwarzen zeigen, wer hier das Sagen hat. Schnell entdecken die selbsternannten Ordnungshüter die beiden Mädchen und werden misstrauisch.

ScottsboroBoys
Die Scottsboro-Boys mit ihrem Verteidiger im Wiederaufnahmeverfahren, Samuel Leibowitz. Urheber unbekannt.

Um von ihren eigenen Vergehen abzulenken, behauptet Victoria, die Schwarzen hätten sie vergewaltigt. Eine medizinische Untersuchung kann diese Behauptung nicht stützen. Im Gefängnis identifizieren die Mädchen dennoch Clarence Norris, Charlie Weems, Roy Wright, Andy Wright, Ozie Powell, Willie Roberson, Eugene Williams und Olen Montgomery als Täter. Der jüngste unter ihnen ist 13 Jahre alt, die anderen zwischen 16 und 19. Alle werden zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt. Ruby sagt später aus, dass die Vergewaltigungen erfunden waren, Victoria bleibt bei ihrer Anschuldigung. Es schließt sich ein Rechtsstreit an, der sich über Jahre hinzieht. Zeugen werden gehört und wieder gehört, widersprechen sich selbst und anderen. Es wird festgelegt, dass der Staat Alabama auch Schwarze in der Jury zulassen muss und alle Fälle unter diesen Bedingungen neu verhandelt werden müssen. Die Medien reißen sich um den Fall, zwischen dem Norden und dem Süden der USA läuft ein tiefer Graben des Rassismus.

Für eine New Yorker Zeitung berichtet Alice Whittier über den Fall. Tatsächlich existiert hat sie nicht, im Gegensatz zu einem Großteil des übrigen Roman-Personals. In Feldmans Roman wird sie zur Vertrauten von Ruby Bates. Sie besucht sie in ihrem ärmlichen Haus, sucht das Gespräch mit ihr und kann das eingeschüchterte Mädchen dazu bringen, Vertrauen zu ihr zu fassen. Sie ist es auch, die zuerst erfährt, dass Ruby nicht vergewaltigt worden ist, sondern nur aus Angst ausgesagt hat. Für Alice steht fest, dass sie alles in ihrer Macht stehende tun muss, um die zu Unrecht angeklagten Jungen vor der Todesstrafe zu bewahren. Im Gegensatz zu vielen anderen Journalisten, die über den Fall berichten und sich dabei vor allem für die harten Fakten interessieren, macht Alice es sich zum Ziel, die Hintergründe der Mädchen zu erforschen. Sie will wissen, ob die beiden wirklich leichtfertig, nur um einer Strafe zu entgehen, das Leben von neun Jungen aufs Spiel setzen. Es wird eine Gratwanderung zwischen moralischer Überzeugung und der Aussicht auf ein einmalige Chance in ihrer noch jungen Karriere.

Feldman_Scottsboro

Das Umfeld, in dem sie sich dafür bewegt, könnte düsterer kaum sein. Für jeden Verhandlungstag reist sie nach Athens, Alabama, wo sie mit allen übrigen Journalisten in einem kargen Hotel untergebracht wird. Die Ortsansässigen geben sich keine Mühe, ihren Unmut über die herumschnüffelnde Journaille zu verbergen. Die Anfeindungen schaukeln sich immer mehr auf, bis am Ende nachts das Hotel von der Armee bewacht wird und ein Ausgang nach Einbruch der Dunkelheit nur noch in Begleitung bewaffneter Soldaten erlaubt ist. Noch mehr verhasst als die Journalisten ist nur der New Yorker Anwalt Samuel Leibowitz, der sich erstens als Yankee wohl nicht erlauben kann, den Leuten in Athens zu sagen, was man tun sollte und zweitens Jude ist. Kein Wunder, dass in dieser Situation niemand besonders große Lust hat, als entlastender Zeuge vor Gericht aufzutreten. Mit viel Unterstützung wagt Ruby es dann doch. Auch, weil sie das erste Mal in ihrem Leben gehört wird, da ist es dann auch fast egal, von wem. Für sie ist es eine berauschende Erfahrung, Aufmerksamkeit zu erfahren und „Lady“ genannt zu werden. Als mittellose Mühlenarbeiterin und Gelegenheits-Prostituierte erscheint ihr das als enormer Glücksfall. Doch so einfach lässt sich die Anklage nicht mehr aus der Welt schaffen.

„Even after all those years, the injustice still stuns. Innocent boys, sentenced to die, not for a crime they did not commit, but for a crime that never occured.“

Feldmans Roman ist detailliert recherchiert und Alices Arbeitsweise bietet einige interessante Perspektiven auf den Fall und das damalige Rechtssystem. Allerdings hat der Text auch einige Längen. Zum einen liegt das wohl im Naturell langwieriger Gerichtsverhandlungen – manchmal wird es eben trocken. Zum anderen hat Alice Whittier natürlich auch ein Privatleben, das ihr absolut vergönnt sei, aber manchmal doch etwas viel Raum einnimmt. Eine ganze Zeit ist sie hin und her gerissen zwischen zwei Männern, und kann sich einfach nicht entscheiden. Diese Liebesgeschichte ist so wenig ausgearbeitet, emotional so indifferent und so wahllos im Text verstreut, dass man sie auch einfach hätte weglassen können. Außerdem wird Alices Kampf um Gerechtigkeit manchmal auch ein wenig sehr moralisch und schlingert gefährlich Richtung Pathos.

Dafür aber gelingt es Feldman sehr gut, die düstere Atmosphäre und die Bigotterie der ganzen Angelegenheit und vieler Beteiligter einzufangen. Da sind zum einen die, die sofort die aussagenden Frauen diskreditieren und zunächst einmal ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellen. Langston Hughes beispielsweise äußerte in diesem Kontext die Frage „Who ever heard of raping a prostitute?“, was eine wirklich schockierend dumme Frage ist. Ich hoffe, er hat sich an irgendeinem Punkt seines Lebens noch dafür geschämt. Zum anderen sind da diejenigen, die sich auf einmal wahnsinnig für zwei Frauen interessieren, die am untersten Rand der Gesellschaft leben ohne jede Chance auf Besserung. Jetzt aber geht es nicht mehr um Gonorrhoe-infizierte Prostituierte, sondern um die Ehre der weißen Frau an sich und die gilt es um jeden Preis zu retten. Wer unsere Frauen anfasst, entscheiden nämlich immer noch wir. In diesen Punkten ist der Stoff erschreckend aktuell geblieben.


Ellen Feldman: Scottsboro. W. W. Norton 2009. 363 Seiten. Aktuell lieferbar bei Picador für ca. €7,-. Eine deutsche Übersetzung gibt es leider nicht.

Das Zitat stammt von S. 25

Mit diesem Roman war Feldman 2009 auf der Shortlist des Orange Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des wpf-Leseprojekts.

8 Gedanken zu “Ellen Feldman: Scottsboro”

  1. Die Hoffnung, dass Langston Hughes sich für die Frage „Who ever heard of raping a prostitute?“ an irgendeinem Punkt seines Lebens noch geschämt hat, teile ich ehrlich gesagt nicht. Und genau deswegen halte ich Scottsboro für ein ganz wichtiges Buch. Vielen Dank für die ausführliche Besprechung!

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    1. Das ist es sicher. Allerdings habe ich keinen Zweifel daran, dass Prostituierte vergewaltigt werden – oder verstehe ich Mr Hughes falsch?

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  2. Ich bin auf die Geschehnisse durch Ibram X. Kendis ,,Gebrandmarkt“ aufmerksam geworden und freue mich, bei dir zu lesen, dass es ein gutes Buch dazu gibt. Die Längen in den Gerichtsverhandlungen können mich nicht schrecken ;-). Danke für den Tipp!

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            1. Da gibt es im Titelschutzanzeiger wahre Schätze zu entdecken. Schön sind auch die Anzeigen im Börsenblatt, wenn doch mal zwei Bücher mit gleichem Titel zeitgleich erscheinen und die Verlage der Branche wortreich die Unterschiede erklären.

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