Shakespeare: The Tempest – Margaret Atwood: Hag-Seed

1611 fertiggestellt und uraufgeführt ist „Der Sturm“ das letzte Stück, das Shakespeare vor seinem Tod fertigstellte. Es wird im allgemeinen zu seinen Romanzen gezählt. Was passiert, ist das:

The Tempest

In der ersten Szene erleidet Alonso, der König von Neapel, Schiffbruch durch einen plötzlich aufziehenden Sturm. Schuld daran ist Prospero, rechtmäßiger Herzog von Mailand, der vor 12 Jahren seinerseits durch eine Intrige seines Bruders auf einem entlegenen Eiland strandete, wo er seitdem mit seiner Tochter Miranda lebt. Prospero hat den Luftgeist Ariel dazu gebracht, einen Sturm aufziehen zu lassen. Und warum? Rache. König Alonso hat nämlich Prosperos fiesen Bruder Antonio dabei unterstützt, Prospero auszuschalten und seinerseits Herzog von Mailand zu werden. Zusammen mit Miranda und Prospero lebt noch Caliban auf der Insel, der missgestaltete Sohn einer Hexe, den Prospero zu seinem Sklaven gemacht hat. Prospero verfügt über magische Kräfte und kann Geister beschwören, vor allem eben den bereits erwähnten Ariel.

Mit an Bord des Schiffes war neben einer Menge Gefolge auch Alonsos Sohn Ferdinand. Der wird beim Schiffbruch vom Rest getrennt, stolpert orientierungslos über die Insel, trifft auf die schöne Miranda und macht ihr keine zehn Zeilen später einen Heiratsantrag. Auch Miranda ist hin und weg; nachdem sie ihre ersten 16 Jahre mit Vater und deformiertem Sklaven verbracht hat, erscheint Ferdinand ihr schön wie ein Engel. Allerdings wird es noch zwei Szenen dauern, bis die Verlobung wirklich stattfindet, man will ja nichts überstürzen. In dieser Szene aber, kurz vor dem Eintreffen Ferdinands, bezeichnet Prospero Caliban als „hag-seed“, falls sich jemand fragt, woher Atwood den Titel hat.

Szene_aus_TheTempest
Das erste Treffen von Ferdinand und Miranda. Links von ihr steht Prospero, im Hintergrund Caliban. Ölgemälde von William Hogarth.

Auf einem anderen Teil der Insel irren derweil Alonso und seine Begleiter umher und suchen Ferdinand. Teil der Begleiter ist Antonio, Prosperos intriganter Bruder. Antonio plant schon wieder einen neuen Umsturz und will Sebastian, den Bruder des Königs überreden, diesen zu töten. Ariel verhindert das in letzter Sekunde.

Auf einem wiederum anderen Teil der Insel treffen derweil Trinculo und Stephano auf Caliban. Die beiden waren ebenfalls auf dem Schiff und glauben, die einzigen Überlebenden zu sein. Stephano ist dank eines geretteten Fasses Wein nicht mehr ganz Herr seiner Sinne und Trinculo ist sowieso nicht die hellste Leuchte. Sie freuen sich, Könige über die Insel zu sein und machen Caliban zu ihrem Monster-Diener. Der findet alles besser, als weiter unter Prospero zu schuften und versucht, Trinculo und Stephano dazu zu bewegen, Prospero zu töten. Zu diesem Zeitpunkt sind alle schon ganz schön betrunken.

Prospero bringt ein paar Geister dazu, die Schiffbrüchigen zu verwirren. Sie sollen zittern vor seiner Macht, nachdem sie ihm vor Jahren so übel mitgespielt haben. Besonders Ariel in Gestalt einer Harpyie hinterlässt bleibenden Eindruck und die Männer fliehen in Furcht.  Das erweicht eine Szene später sogar Prosperos Herz – am Ende des Stücks beschließt er, keine Rache mehr zu üben, die Geister in Frieden zu lassen und seinen Zauberstab zu brechen. Nach einem klärenden Gespräch verspricht Alonso, Prospero sein Herzogtum wiederzugeben und alle gemeinsam machen sich auf den Weg zu Prosperos Wohnstätte, wo Miranda und Ferdinand, ganz junges Glück, warten. Beeindruckt von so viel versammelter Männlichkeit äußert Miranda eines der bekanntesten Shakespeare-Zitate:

„How many goodly creatures are there here! How beauteous mankind is! O brave new world, that has such people in’t!“

Alle sind glücklich und am nächsten Tag soll es zurück nach Italien gehen. Bei bestem Wetter, verspricht Ariel. Was aus Caliban wird, ist nicht ganz klar. Im Gegensatz zu Ariel wird ihm nicht explizit die Freiheit versprochen. In einem Epilog verabschiedet Prospero sich vom Publikum und bittet darum, ihn mit Applaus zu entlassen. Einige Literaturwissenschaftler glauben, dass das Shakespeares offizieller Abschied von der Bühne war. Und was macht Atwood draus?

Hag-Seed

Atwood macht aus Prospero den Regisseur und Schauspieler Felix, der beim Makeshiweg-Theaterfestival arbeitet, bei dem er seit Jahren mit aufsehenerregenden Produktionen von sich reden macht. Seine Frau ist früh verstorben, und, anders als bei Shakespeare, auch seine Tochter Miranda. In den letzten Jahren hat sein Assistent Tony mehr und mehr Aufgaben von ihm übernommen, damit er sich allein auf seine künstlerische Arbeit konzentrieren konnte und schließlich ist es soweit – Tony reißt seinen Posten an sich, Felix wird entlassen und recht uncharmant vor die Tür gesetzt. Seine aktuelle Inszenierung von „The Tempest“ kann er nicht mehr zu Ende bringen.

Atwood_Hag-Seed

Enttäuscht zieht er sich in die Einöde zurück und leckt über Jahre seine Wunden, bis er sich schließlich, wenn auch unter anderem Namen, aufraffen kann, eine Stelle in einem Gefängnis anzunehmen, wo er mit Literaturunterricht die Lesekompetenz der Insassen auf Vordermann bringen soll. Statt jedes Jahr aufs neue The Catcher in the Rye zu lesen, stellt er nun eine Theatertruppe auf die Beine, „The Fletcher Correctional Players“, die bald einen sehr guten Ruf genießt, zumindest innerhalb der Gefängnismauern.

Doch über all die Jahre ist sein Rachedurst nicht versiegt. Eines Tages kündigt sich hoher Besuch im Gefängnis an – Tony ist mittlerweile Minister geworden und will das Theaterprojekt sehen. Auch der ehemalige Bildungsminister, der vor Jahren an Felix Entlassung beteiligt war, soll kommen. Wie er aus gut informierter Quelle weiß, wollen sie dem Projekt die Gelder streichen. Ein weiterer Angriff auf Felix also, obwohl die beiden das noch gar nicht wissen. Aber wenn Antonio und Alonso schon ihren Besuch auf der Insel ankündigen, was sollte da anderes inszeniert werden als „The Tempest“?

„What he had in mind was vengeance – that was certainly universal.“

Atwood hat in ihrer Version sehr smarte Parallelen zum Stück gefunden. Felix ist auf seine Art ein begnadeter Zauberer und seine dienstbaren Geister, allen voran Ariel, haben tatsächlich ein paar überraschende Talente, die er auf seiner Insel optimal zu nutzen weiß. Seine Fähigkeit, ein paar funktionelle Analphabeten zu Liebhabern von Shakespeare zu machen, grenzen nicht nur an Zauberei, sondern erinnert in ihrer Methodik auch ein bisschen an Der Club der toten Dichter. Seine Herangehensweise an Shakespeare ist so wagemutig wie ungewöhnlich, findet aber Anklang. Vor dem sagenumwobenen Bild des „großen Barden“ macht er nicht halt, sondern geht weiter in die Tiefe und findet dort neue Möglichkeiten und Widersprüche, sowie überraschende Charakterzüge in seinen Figuren, die das Stück auf einmal viel interessanter machen. Auch ein wenig aus der Aufführungspraxis, die sich im Lauf der Jahrhunderte sehr gewandelt hat, findet Raum in dem Stück.

Atwood gelingt in dieser Reihe bisher am besten, was eigentlich das große Potenzial des Projekts ist: sie findet die Grundthemen des Stück und arbeitet mit ihnen. Das funktioniert sehr gut, denn die Motivationen, welche die Menschen antreiben, sind ja seit 1600 keine anderen geworden. Machtgier, Begehren, Rachedurst, romantische Liebe. Sie analysiert das Stück, gräbt in der Tiefe, findet Verbindungen und Motive. Den Übertrag ins 21. Jahrhundert meistert sie schlüssig und recht elegant.

Doch der Roman hat auch Schwächen. Als Neuerzählung von „Der Sturm“ ist es eine sehr gelungene, sehr smarte Adaption, die als solche absolut besteht. Hag-Seed ist allerdings bei weitem nicht Atwoods bester Roman und läse man ihn als eigenständigen Text, würde vieles nicht sehr viel Sinn ergeben. Einiges im Buch liest sich auch schlicht sehr aufgelistet. Felix Shopping-Trip in die nächste Großstadt, wo er eine lange Liste von Besorgungen abarbeitet, hätte mir auch in einer sehr verkürzten Version völlig gereicht. Die Insassen des Gefängnisses werden nicht nach und nach eingeführt, sondern mit einer Liste, die ihre eigentlichen Namen, ihre Bühnennamen und ihre Anklage beinhaltet. Anklage, wie Felix insistiert, nicht Verbrechen, das seien zwei verschiedene Dinge.

Und da sind wir auch wieder bei einer Stärke des Romans: Atwood hat ja ihre Themen, die sie seit Jahrzehnten beackert und da ist Gerechtigkeit kein kleines. Korrupte Politiker, Kolonialismus, Rassismus und Feminismus sind sowohl Themen, die man im Stück finden kann, als auch ein Heimspiel für Atwood. Sie lässt die Fletcher Correctional Players einige Teile des Stücks hinterfragen und am Ende sogar selbst neu schreiben. Zugegeben, auch das wirkt manchmal etwas gestelzt und wenig durch die Handlung getragen, eröffnet aber sehr interessante Blickwinkel auf das Stück.

Voraussetzung dafür ist natürlich, dass man es kennt. Wie auch bei Jacobsons Shylock aus der gleichen Reihe kommt man nicht sehr weit, wenn man den Text nicht gelesen hat. Für alle, die Hag-Seed lesen wollen, also die ausdrückliche Empfehlung, vorher nochmal das Stück zu lesen. Das dauert wirklich nicht sehr lang und man hat ganz deutlich mehr vom Roman, der sowohl ein Text über einen rachedurstigen Mann, als auch das Theater an sich ist.


William Shakespeare: „The Tempest“. Gelesen in der Ausgabe The Complete Works of William Shakespeare. The Cambridge Text. Cambridge UP 1982. pp. 11 – 32.

Das Shakespeare-Zitat stammt aus Akt V, Szene 1.

Margaret Atwood: Hag-Seed. The Tempest Retold. Vintage 2017. 289 Seiten, ca. € 10,-. Erstausgabe Hogarth 2016. Deutsche Ausgabe unter dem Titel Hexensaat. Übersetzt von Brigitte Heinricht. Knaus 2017.

Das Zitat stammt von S. 73.

 

8 Gedanken zu “Shakespeare: The Tempest – Margaret Atwood: Hag-Seed”

  1. Ich stimme dir absolut zu. Spaß hat man an all den Adaptionen der Reihe nur, wenn man die Originale kennt. Auch ich finde bisher Atwoods Beitrag am gelungensten. Nun bin ich auf St Aubyns Beitrag gespannt.

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  2. Ich habe gerade Jeannette Winterson und Ian McEwan gelesen und war sehr begeistert, habe deine Rezension jetzt nur ganz grob gelesen, weil ich Hag-Seed als nächstes aus der Reihe lesen will und danach ausführlich gucke…
    Finde es aber dennoch spannend, dass wir die Reihe gerade beide am Wickel haben 🙂

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  3. Hallo Marion,

    danke für die detaillierte Besprechung, du warst da viel genauer als ich 🙂

    Für mich ist nur schwer vorstellbar, dass jemand diesen oder einen der anderen Beiträge zum Hogarth Shakespeare Project ohne Hintergrundwissen über das jeweilige Stück liest, aber wenn doch, wäre es wohl nur der halbe Spaß. Damit bin ich schon beim für mich zentralen Punkt: Hag-Seed ist vor allem einmal eine unterhaltsame Geschichte und macht damit genau das, was Shakespeare mit seinen Stücken tun wollte und was ihm auf geniale Weise gelang: sein Publikum zum Lachen und Weinen bringen. Daher habe ich mich sehr gerne auf die Geschichte eingelassen, ohne sie allzu sehr zu hinterfragen, und die ironische Darstellung von Felix/Prospero, den liebevollen Umgang mit der Figur der Miranda und die einfallsreiche Übertragung ins Heute genossen.

    Vinegar Girl und Shylock is My Name habe ich mit einer ähnlichen Herangehensweise (und ähnlichem Ergebnis) gelesen, und auch ich freue mich schon auf die anderen Bücher der Reihe und auf den Meinungsaustausch dazu.

    Herzliche Grüße aus Wien,
    Niamh

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    1. Hallo Niamh,
      du hast völlig Recht – nach Shakespear’schen Maßstäben müssten die Romane eigentlich nur massentaugliche Unterhaltung sein. Das vergisst man bei der heutigen Rezeption seiner Stücke oft.
      Tatsächlich habe ich schon Besprechungen zu der Reihe gelesen bzw. bei youtube gesehen, bei denen die Besprechenden die Vorlagen offenbar nicht oder nur sehr grob kannten. Da wurden dann z.T. Dinge kritisiert, die wirklich nah am Stück waren. Hätte ich „The Tempest“ nicht gekannt, hätte ich beispielsweise die sich rasant entwickelnde Liebesgeschichte zwischen Ferdinand und „Miranda“ auch total bescheuert und unglaubwürdig gefunden. Zumindest eine gute Zusammenfassung sollte man halt schon kennen.

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