Kate Atkinson: Life After Life

Ursula Todd wird 1910 geboren, die Nabelschnur um ihren Hals, und schafft es nicht mal zum ersten Atemzug.

Ursula Todd wird 1910 geboren, der gerade rechtzeitig eintreffende Arzt kann ihr Leben retten, sie ertrinkt beim Baden mit der Schwester.

Ursula Todd wird 1910 geboren, wird am Strand von einem zufällig anwesenden Maler gerettet und rutscht, als sie versucht, ihre Puppe zu retten, vom Dach.

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Und so geht es immer weiter, denn Ursula kann vieles, nur nicht liegen bleiben. Ihr Leben beginnt immer wieder von neuem, immer wieder bekommt sie die Chance, Dinge zu ändern und zu sehen, wie ihre Zukunft davon beeinflusst wird. Zumindest glaubt Ursula das, ihre Mutter Sylvie hingegen ist besorgt um ihre Tochter und ihre starken Déjà-vus, die sie manchmal sogar gewalttätig werden lassen. Auch ihr Psychiater glaubt eher nicht an Ursulas ständige Wiedergeburt. Allerdings lässt auch Atkinson da eine kleine Hintertür offen. Ursula beginnt in jungen Jahren, an starken und häufigen Kopfschmerzen zu leiden, die mit den Jahren immer schlimmer werden, deren Ursache aber niemals abschließend geklärt werden kann. Auch Atkinson klärt nicht darüber auf, was zumindest die Möglichkeit offen lässt, dass es für Ursula Todd tatsächlich nur ein einziges Leben gab, begleitet von einer sich langsam entwickelnden Gehirnerkrankung, die starke Déjà-vus auslöst. Wobei diese Erklärung neue Logikfehler mit sich bringen würde, die man sich genauer ansehen müsste. Hab ich nicht gemacht, dazu kam mir die Idee zu spät.

Jeder war vermutlich mal an irgendeinem Punkt seines Lebens, an dem man sich gefragt hat, ob es anders hätte laufen können, wenn man diese und jene Entscheidung anders getroffen hätte, in dieser und jener Situation was anderes getan, gesagt, gefragt, getragen hätte. Die Idee, eine Geschichte mit minimalen Änderungen und ihren großen Folgen immer wieder von vorne zu beginnen, ist natürlich nicht ganz neu. Im kleinen, mit nur einem einzigen Tag, hat Bill Murray das schon 1993 in Punxsutawney erlebt und da war er sicher nicht der erste. Denn die Idee ist eben faszinierend. Was wäre denn, wenn wir wirklich zurückgehen könnten, an diesem Tag einen anderen Weg als sonst gehen, eine klügere Antwort haben, durch unser Wissen ein großes Unglück verhindern können?

„I heard someone say once that hindsight was a wonderful thing, that without it there would be no history.“

Ursula Todd war die erste sympathische Protagonistin, der ich den Tod gewünscht habe und das gleich mehrfach. Ich habe ihr gewünscht, dass sie bei einer illegal durchgeführten Abtreibung stirbt, dass ihr gewalttätiger Ehemann sie endlich umbringt, dass eine Bombe sie trifft. Nur, damit sie es nochmal und besser machen kann. Damit sie die Geschichte der Welt verändern kann. Denn wie man schon nach dem ersten Kapitel weiß, muss sie 1930 in München sein, um Hitler zu erschießen, aber sie schafft es nicht immer rechtzeitig. Zudem war der Neustart ihres Lebens immer das Interessanteste in dem Roman. Zu sehen, was sie dieses mal verändert, welche Auswirkungen das haben wird. Die Lebensgeschichte von Ursula Todd wird mit jedem mal interessanter und entwickelt sich von einer durchschnittlichen Middleclass-Biographie zu einer sehr außergewöhnlichen. Interessant ist aber vor allem das zugrunde liegende Gedankenspiel um die Möglichkeit eines realen Neustarts.

Nicht alle der möglichen Varianten ihres Lebens haben mich gleich interessiert und begeistert, einige waren sogar recht mühsam und schleppend zu lesen. Aber nun gut – wie anders soll man den Bombenhagel auf London im Zweiten Weltkrieg auch beschreiben wenn nicht als mühsam? Dennoch hätte der Roman vielleicht auf die eine oder andere Variante verzichten können – ein paar Seiten weniger hätten ihm nicht geschadet.


Kate Atkinson: Life after Life. Gelesen in der Ausgabe Black Swan 2013. 621 Seiten. Lieferbar in der Ausgabe Black Swan 2014, ca. € 7,-. Erstausgabe Doubleday 2013. Deutsche Ausgabe: Die Unvollendete. Übersetzt von Anette Grube. Im Taschenbuch bei Droemer Knaur 2015, € 12,99.

Das Zitat stammt von S. 554.

Im sponsorenfreien Jahr 2013 war dieser Roman nominiert für den Women’s Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.

 

11 Gedanken zu “Kate Atkinson: Life After Life”

  1. Ein riesengroßes Herz für deine Rezension zu Life After Life!

    !!!

    Entschuldige, aber… ! Ursula ist mein absolutes Herzensbuch, ich liebe diese Frau und ich bin mit ihr schon so oft gestorben und wiederauferstanden… ♥

    „Ursula Todd war die erste sympathische Protagonistin, der ich den Tod gewünscht habe und das gleich mehrfach“ – Exakt mein Denken! Ich fand es auch total faszinierend, wie ich in ihren jungen jahren immer total entsetzt war, dass sie sterben musste und je älter sie wurde, je mehr Mist passierte, umso mehr habe ich ihr von ganzem Herzen den Tod gewünscht.

    Hach .. Ursula … Da werd ich direkt wieder sentimental. ♥

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    1. Nein, noch nicht. Das hier war mein erster Roman von Atkinson. Ich hab mir aber mal die Inhaltsangabe durchgelesen – klingt wirklich gut! Ich danke für den Hinweis!

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  2. Das hört sich wirklich interessant an, ich habe ja eine Schwäche für diese Plots – wohl aber eher auf dem Bildschirm. Kommt aber auf die Merkliste, vielen Dank für die spannende Rezension!

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  3. Das Buch habe ich vorletztes Jahr gelesen und hatte hinterher erstmal einen „Buchkater“. Die Handlung hat mich wirklich mitgerissen und mir ging es genauso wie dir: Ich habe Ursula auch oft den Tod gewünscht, damit sie ein besseres Leben leben kann.

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