Hilary Mantel: Beyond Black

Alison (Al) Hart ist ein Medium. Bei ihren Auftritten in Londoner Vorstädten verspricht sie den zahlenden Gästen, Nachrichten für sie aus dem Jenseits empfangen zu können. Auch Handlesen, Tarot und telefonische Beratungstermine gehören selbstverständlich zu ihrem Repertoire. Die treibende Kraft dahinter ist Colette, ihre Managerin, die nach der Trennung von ihrem Mann auch bei ihr lebt.

mantelbeyondblackSchon viel länger an Als Seite ist aber Morris, ein gelbgesichtiger Gauner mit krummen Beinen, der schon seit ihrer Kindheit ihr ständiger Begleiter ist und außerdem schon lange verstorben ist. Ihn wird sie nicht los, so sehr sie es sich auch wünscht. Er taucht überall auf, folgt ihr auf jedem Schritt, zerstört Dinge und belästigt ihre Freundinnen. Kann sie wirklich Geister sehen oder sind ihre spiritistischen Kräfte nur Show? Diese Frage kann man in diesem Roman so zweifelsfrei gar nicht beantworten. Al sieht, hört und erlebt Dinge, die für andere unsichtbar und verschlossen bleiben, die für sie aber absolut real sind und absolut keine Trickserei.

Alisons Kindheit war die Hölle. Aufgewachsen ist sie als Kind einer Prostituierten in einem baufälligen Haus in einer der heruntergekommendsten Gegenden der Stadt. Wer ihr Vater ist, weiß Al nicht. Wenn ihre Mutter Ruhe braucht, sperrt sie Al auf dem Dachboden ein. Dort trifft sie auch das erste Mal einen Geist, eine ältere Dame, die ihr Gesellschaft leistet und Spielzeug bringt. Viele der Geister, die ihr heute noch folgen, kennt sie auch schon aus dieser Zeit, damals waren sie allerdings noch am Leben. An dieser Stelle eine Warnung: Als Kindheit ist sehr lieblos und brutal. Es geht viel um Gewalt und auch um sexuellen Missbrauch. Alison wächst auf in einer Gegend, in der man Schreie nicht hört. Es wird nicht sehr explizit, aber wer bei diesen Themen zart besaitet ist, sollte Vorsicht walten lassen.

„People are right to be afraid of ghosts.“

Die Grenzen zwischen Lebenden und Toten verwischen in diesem Roman. Für Alison ist diese Unterscheidung ohnehin nicht sehr relevant. Lebende sind für sie nicht realer oder zugänglicher als Tote oder ‚Hinübergegangene‘, wie sie es lieber nennt. Am wenigsten zugänglich sind für sie ihre Nachbarn in der Neubausiedlung, in die sie mit Colette zieht. Sie wünscht sich ein Haus ohne Geschichte, in der keine Gestalten und Erinnerungen in den Ecken lauern. Sie bekommt es und dazu gleich ein paar Nachbarn, die zwei alleinstehende Frauen in einem Haus höchst fragwürdig finden und ständig besorgt sind um den Wiederverkaufswert ihres Eigenheims.

Mantel hat mit Beyond Black einen beeindruckenden Roman geschrieben. Die Geschichte ist brutal und tragisch, in vielen Episoden aber auch sehr witzig. Colette ist eine sehr geradlinige und schlagfertige Frau, die nie um eine Antwort verlegen ist und Alison sehr deutlich ihre Meinung sagt. Nicht selten wird sie dabei auch verletztend, besonders wenn es um Als recht stattliche Figur geht. Zu Beginn liest der Roman sich wie eine amüsante Erzählung über eine Frau, die mit ihrer halbseidenen Masche dem Publikum das Geld aus der Tasche zieht. Doch schon noch ein paar Seiten wird klar, dass es so einfach nicht ist und dass die Geister der Vergangenheit oft die bedrohlichsten sind.

In einigen Etappen scheint der Geschichte ein bisschen der Drive zu fehlen und sie dümpelt kurz vor sich hin, bevor sie entscheidet, wie es weitergehen soll. Es ist die Geschichte einer Frau, die eine extrem dunkle und schwierige Vergangenheit hat und die lernen muss, damit umzugehen. Es ist außerdem die Geschichte einer Frau, die einen Verlust erlitten hat und nun versuchen muss, wieder auf die Beine zu kommen. Und auf sehr merkwürdige, manchmal etwas verstörende Art scheinen die beiden dabei einander tatsächlich eine Stütze zu sein.


Hilary Mantel: Beyond Black. Gelesen in der Ausgabe Harper Perennial 2005. 451 Seiten. Lieferbar in der Ausgabe Harper Collins 2010, ca. € 11,-. Soweit ich feststellen konnte, wurde der Roman nicht ins Deutsche übersetzt.

Das Zitat stammt von S. 193.

Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.

14 Gedanken zu “Hilary Mantel: Beyond Black”

  1. In welcher Zeit spielt der Roman?
    Ich hab das hochgelobte „Wölfe“ von Mantel gelesen und fand es eher langweilig und mühsam und bin seit dem ein bisschen skeptisch bei ihren Büchern. Auch wenn die Themen und Inhaltsangaben recht spannend klingen.

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    1. Oh, gute Frage wann genau das spielt. Colette besitzt auf jeden Fall einen Laptop. Wenn auch einen sehr sperrigen und schweren… Seit wann hat man sowas denn? 90er?

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  2. Ich habe tatsächlich noch nie etwas von Hilary Mantel gelesen, dabei steht „Wölfe“ seit Jahren im Regal und ich kann mich nicht recht überwinden, es endlich mal anzugehen. Kennst Du das? Dies scheint ein interessanter Roman zu sein, danke für die Vorstellung!

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  3. Sehr interessant! Ich liebe ja die historischen Sachen Hilary Mantel, und ihre Kurzgeschichten, die ich mir etwas aus Versehen kaufte (ich mag eigentlich sehr viel lieber längere Geschichten, je dicker das Buch, desto euphorischer bin ich), waren auch etwas für mich. Kommt auf meine Liste (wie so vieles, was du hier besprichst, dafür wenigstens einmal ein Dankeschön!)

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    1. Aber sehr gerne!
      Ihre historischen Sache kenne ich noch gar nicht, aber das war ja auch mal alles nominiert… Ich bin gespannt – historische Romane sind ja selten meins.

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  4. Wenn man sich für historische Romane jenseits der gängigen Ware, in der die geschichtlichen Tatsachen in mindestens eine schwülstige Liebes- oder Starke Frauengeschichte verpackt werden, interessiert, ist Hilary Mantel wirklich ein Muss. Ich fand beide Romane grandios. Es gibt aber auch nicht wenige Leser, die sie langweilig finden, weil eben Action und Gefühl eher schmalen Raum einnehmen. Zudem war Cromwell wohl eher (zumindest nach Mantel) ein nüchterner Typ. Meine Empfehlung haben zumindest beide Romane.
    Mir geht es gerade andersherum, ich habe noch keinen nicht-historischen Roman von ihr gelesen. Sollte ich unbedingt nachholen. LG

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  5. Der steht schon ganz lange auf meiner Wunschliste, seit er mir bei einer „Bibliotherapy Session“ mal verschrieben wurde – langsam sollte ich dann wirklich mal … 😉

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