Heinrich Mann: Die kleine Stadt

H. MANN betritt von rechts kommend das nach der neuesten Mode eingerichtete Bureau seines VERLEGERS. VERLEGER an seinem Schreibtisch erhebt sich leicht.

H. MANN (überschwänglich): Sehen Sie, Herr Verleger, hier ist mein neues Werk!“
VERLEGER greift nach Manuskript und blättert darin. Legt Manuskript mit resigniertem Gesichtsausdruck auf Schreibtisch.
VERLEGER: Aber Herr Mann, das ist ja ein Drama! Das geht so nicht. Das Publikum wünscht keine Dramen zu lesen sondern Romane!
H. MANN (kleinlaut): Ja, aber nun hab ich..
VERLEGER (großspurig): Mein lieber Herr Mann, das ist doch gar kein Problem. Hier haben Sie einen Stift (gibt ihm einen Stift) und immer wenn da steht… zum Beispiel „DON TADDEO:“ machen sie daraus „Don Taddeo sagte“. Oder „alle ab“, da machen Sie einfach draus „Alle verlassen den Marktplatz“ oder so. Das kriegen sie schon hin. Ist ja nicht ihr erster Roman.

H. MANN und VERLEGER verharren im Hintergrund. BLOGGERIN betritt Bureau vom rechten Bühnenrand. Sie trägt ein Heißgetränk in der Hand.

diekleinestadt

BLOGGERIN: So ist Die kleine Stadt nicht entstanden, aber es hätte mich nicht gewundert. Es ist die Geschichte eines kleinen Ortes in Italien, in dem eine Wanderoper gastiert. Diese kommt vor allem auf Bestreben des Advokaten, der sich gerne weltgewandt und feingeistig gibt und das des Maestro, der Stücke komponiert und von Bühnenruhm träumt. Bisher reicht es nur zum Dirigieren des Dorf-Orchesters. Doch das Projekt hat auch erbitterte Gegner, wie den Priester Don Taddeo und seine Anhängerinnern. Er fürchtet sittliche Verrohung durch den Besuch der Künstler und die Aufführung der Oper gerät zur Zerreißprobe für die Stadt. Tatsächlich machen Gerüchte die Runde, kaum hat die Postkutsche gehalten und die illustren Fahrgäste aussteigen lassen. Dieser soll vor dem Fenster der Sängerin gesehen worden sein, diese soll dem hübschen Tenor verfallen sein. Mit Künstlern hat man in dem Städtchen keine Erfahrung, aber was man so von ihnen hört…

Die schöne, von alle begehrte aber unerreichbare Alba verfällt sofort dem Werben des ebenso begehrten Nello, der allen bisherigen Liebschaften abschwört und von nun an nur noch in den Armen dieser einen liegen will. Auch der strenge Don Taddeo entdeckt unbekannte Gefühlswallungen in sich, was ihn umso mehr gegen die Theatertruppe aufbringt.

BLOGGERIN nippt an Heißgetränk

Die ganze Erzählweise erinnert stark an ein Drama. Die eigentlichen Orte der Handlung beschränken sich auf sehr wenige Plätze. Den Dorfplatz, in dessen Mitte ein Brunnen und an dessen Rändern zwei Lokale und die Kathedrale stehen, das Theater und einen Park etwas außerhalb der Stadtmauern. Alles, was nicht unmittelbar dort passiert, wird von einer der Figuren erzählt. Auch das Aussehen der Umgebung wird oft nicht im Erzähltext beschrieben, sondern in der wörtlichen Rede einer der Figuren, wie man es eben aus dem Theater kennt. „Wir sind in einer Höhle aus großen Steinen!“ (S. 222) ist nun nicht das, was man in einem natürlichen Gespräch erwarten würde. Auch sonst ist die Sprache dramentypisch pathetisch übersteigert.

Geradezu komödienhaft überladen ist das Personal. Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen, welcher Freund und wessen Frau jetzt noch eingeführt wird und wer als Witz am Rande über den Marktplatz stolpert.

Ich habe ein Zitat aus einem Brief Heinrich Manns gefunden, in dem er schreibt, dies sei ihm sein liebster Roman. Ich habe ihn abgebrochen, als erstes Buch seit Monaten. Andere Sachen von ihm habe ich sehr gerne gelesen, aber als gute 80 Seiten vor Schluss eines der Häuser am Marktplatz Feuer fängt und die Flammen auf andere Gebäude überzugreifen drohen dachte ich ‚lasst sie brennen die Stadt, sie ist mir egal, mit allen, die darin wohnen‘. Ich finde nicht, dass Literatur ein Identifikationspotenzial bieten muss. Ich habe sehr viel gute Bücher gelesen, mit deren Figuren ich mich nicht identifizieren konnte. Aber wenigstens ein Interesse an der Handlung und ihrem Fortgang sollte geweckt werden. Und das hat in diesem Fall leider nicht im Ansatz funktioniert.

BLOGGERIN läuft hastig zu Schreibtisch, stellt die Tasse ab und macht ein Selfie von sich und dem noch immer erstarrtem H. MANN.

Alle ab.

Vorhang.


Heinrich Mann: Die kleine Stadt. Gelesen in der Ausgabe Fischer 2009. 391 Seiten, € 10.-. Erstausgabe Insel 1909.

4 Gedanken zu “Heinrich Mann: Die kleine Stadt”

  1. Das mit der Identifikation stimmt, finde ich. Es ist oft „leichter“, wenn man sich identifizieren kann, aber das ist nicht das, was einen guten Roman ausmacht. Und manchmal passt es nicht, und dann darf man abbrechen, wozu sich quälen? Nur das Heißgetränk hat mich etwas irritiert, Eistee wäre grade passender 😉

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    1. Das stimmt absolut. Identifikation kann kein Maßstab sein. Aber interessieren müssen die Figuren mich schon. Wenn mir ihr Schicksal so ganz egal ist, macht es ja auch keinen Spaß.
      Und bitte ja! Eistee!

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