Szilárd Borbély: Die Mittellosen

diemittellosen„Ihr wisst, dass man uns im Dorf verachtet. In diesem Dorf werden wird gehasst. In jedem Dorf hasst man uns.“

In Die Mittellosen erzählt der ungarische Autor Szilárd Borbély die Geschichte eines Jungen, der in den 60er-Jahren in äußerster Armut in einem Dorf in Ungarn, nahe der rumänischen Grenze aufwächst. Er lässt den Jungen selbst zur Sprache kommen, was eine sehr unmittelbare Perspektive schafft.

Das Haus der Familie ist aus Lehm gebaut, der Boden besteht aus gestampfter Erde, mit Teerpappe vor Feuchtigkeit geschützt. Der junge Erzähler teilt sich mit seinen Eltern und seinen beiden Geschwistern einen Raum mit zwei Betten darin. Außer ein paar Hühnern und Schweinen besitzt die Familie fast nichts. In der Dorfgemeinschaft werden sie ausgegrenzt. Der Vater bekommt keine Arbeit, nicht einmal in der LPG, in den Geschäften werden sie betrogen. Der Grund dafür wird nicht ganz klar. Einige behaupten, der Vater des Jungen sei ein Jude, zumindest ein Halbjude, allerdings feiert die Familie christliche Feste, was ebenfalls auf Ablehnung stößt. Ein Weggang aus dem Dorf wird zwar immer wieder ins Auge gefasst, dann aber aus verschiedenen Gründen verworfen. Am meisten hasst die Mutter das Dorf, glaubt aber nicht daran, dass es woanders besser werden könnte.

Ihre Frustration lassen die Familienmitglieder hemmungslos aneinander aus. Regelmäßig verprügelt der Vater seine Frau und die Kinder und auch die Mutter schlägt in ihrer Verzweiflung bei Nichtigkeiten zu. Sie hört erst auf, wenn die Tränen sie übermannen und sie die Kraft verliert. Mehrfach droht sie ihren Suizid an, den sie vielleicht tatsächlich aus Verzweiflung plant, ihren Kindern aber als Strafe für Ungehorsam androht: „Ihr werdet Waisen. Dann werdet ihr bereuen, dass ihr nicht gehört habt.“ (S. 40) Nachts liegt der Junge oft wach und überlegt, wie schön es sein könnte, wenn der Vater endlich stirbt. Wenn sie ihn geschlagen hat, auch die Mutter. Wenn auch das nichts hilft, erträumt er seinen eigenen Tod, wie alle an der Bahre trauern und es endlich vorüber ist. Seine Wut lässt er an Tieren aus, die er mit Leidenschaft quält, er hat eine morbide Faszination für aufgedunsene Kadaver, die er im Wald findet und aus denen die Maden kriechen. Liebe, Zuneigung oder Mitleid scheint er auch zu empfinden, etwa mit dem Messias genannten Mann, der von der Dorfgemeinschaft als schwachsinniger Zigeuner verspottet wird. Artikulieren kann er diese Gefühle allerdings noch weniger als seinen Hass und seine Angst.

Bedrückend wird die Erzählung vor allem durch den Umstand, dass keinerlei Hoffnung, keinerlei Aussicht auf Besserung zu bestehen scheint. Ganz gleich, wie die Familie sich abmüht, wird sie im Dorf nicht akzeptiert und ihre Situation wird immer prekärer. Jeder noch so kleine Hoffnungsschimmer wird im Keim erstickt. Als ein Onkel Schokolade aus Kanada schickt, wird diese ehrfurchtsvoll in der Vitrine ausgestellt und für einen besonderen Moment aufbewahrt. Als dieser endlich gekommen ist und die Kinder sich auf den himmlischen Genuss freuen, ist die Schokolade verschimmelt. Und diese grenzenlose Hoffnungslosigkeit, diese uferlose Traurigkeit zieht sich durch das ganze Buch. Und durch das Leben des Autors – der Roman ist teilweise autobiographisch, Borbély nahm sich kurz nach Erscheinen das Leben. Kurz vor seinem Tod sagte er, er habe all das wohl bei weitem nicht so gut verarbeitet, wie er geglaubt hatte.

Den Roman schrieb er in Episoden, nicht chronologisch, sondern so, wie man sich erinnert, in losen Assoziationen. Dadurch entstehen kurze Textabschnitte, Miniaturen, die oft auch für sich allein stehen könnten, zusammen aber einen beeindrucken Text ergeben. Es gibt fast keine besonders brutalen oder expliziten Gewaltdarstellungen in diesem Buch und trotzdem ist so grausam, dass man es manchmal fast nicht erträgt.


Szilárd Borbély: Die Mittellosen. Aus dem Ungarischen von Heike Flemming und Lacy Kornitzer. Suhrkamp 2016. 350 Seiten, € 12,-. Deutsche Erstausgabe Suhrkamp 2014. Originalausgabe: Nincstelenek. Kalligram Kiadó 2013.

Das Zitat stammt von S. 51 der deutschen TB-Ausgabe

2 Gedanken zu “Szilárd Borbély: Die Mittellosen”

  1. Mich hat dieses Buch auch sehr berührt. Ich fand es in Verbindung mit dem tragischen Ende des Autors umso prägender. Denn letztlich frage ich mich bei Künstlern, die früh verstorben sind, was sie noch alles hätten erschaffen können. Viele Grüße

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