Neel Mukherjee: In anderen Herzen

inanderenherzenFreundlich zu denen sein, die einem nah und lieb sind – ist das nicht etwas Größeres, als für die unbekannte Masse Gutes tun?

In anderen Herzen, ein Roman über die bengalische Familie Ghosh, 2014 auf der Shortlist für den Man Booker Prize, wird häufig als „die indischen Buddenbrooks“ bezeichnet. Das ist es natürlich nicht und es ist auch nicht besonders sinnvoll, eine Lübecker Familie im 19. Jahrhundert mit einer indischen Familie in den 1960ern zu vergleichen, allein daran muss es schon scheitern. Es sind beides Familiengeschichten, in beiden geht es um ein Familienimperium, das der Stolz der ganzen Sippschaft ist und nun unaufhaltsam zugrunde geht. Und beide Familien, die Buddenbrooks wie die Ghoshs, sind Geiseln der Gesellschaft, in der sie leben, in der kein noch so kleiner Grenzübertritt verziehen wird und in der die Meinung der Nachbarn wichtiger ist als das eigene Glück.

Patriarch Prafullanath hat den Reichtum der Familie mit Papierfabriken begründet – mehr Untertan als Buddenbrooks – und steht nun kurz davor, den Betrieb an seine Söhne zu übergeben. Doch nicht alle von ihnen sind daran interessiert oder auch nur dazu in der Lage. Sohn Bhola, Schöngeist der Familie, gibt das Geld für die Förderung junger Literaten aus, ohne sich darum zu scheren, ob der von ihm geleitete Verlag überhaupt etwas abwirft. Zudem hat Prafullanath eine kostspielige Modernisierung in die Wege geleitet, die bisher noch nicht die erhoffte Produktivitätssteigerung einbringt. Doch nicht nur innerhalb der Familie knirscht es gewaltig – die wichtigste Fabrik des Imperiums liegt seit Monaten still, da die Arbeiter streiken, die sich nicht mehr mit den ungerechten Arbeitsbedingungen arrangieren wollen. Noch vor wenigen Jahren wäre so ein Verhalten undenkbar gewesen und Prafullanath denkt nicht daran, einzulenken.

Sein Enkel Supratik stellt sich derweil auf die Seite der Armen und Entrechteten, noch dazu auf sehr radikale Art und Weise. Zunächst ist er Mitglied der kommunistischen Partei Indiens, ist aber von deren inkonsequentem Verhalten bald enttäuscht und schließt sich den gerade entstehenden Naxaliten an. Über Monate lebt er auf dem Land bei den Bauern, die am meisten unter der Macht der Großgrundbesitzer zu leiden haben und oft kurz vor dem Verhungern stehen. Er hilft, die Männer zu überfallen und zu töten, die vom Elend dieser Familien profitieren. Er versteckt sich in den Wäldern, manipuliert Bahnstrecken, um Züge zum Entgleisen zu bringen und hat mit seiner wohlhabenden Familie endgültig gebrochen, die seine politischen Aktivitäten weder verstehen noch akzeptieren kann. Über seine Taten berichtet er in einem briefartigen Tagebuch, von dem man lange nicht erfährt, an wen es gerichtet ist.

Seine Familie trägt zu Hause in Kalkutta derweil ganz andere Kämpfe aus. Sie alle leben in einem Haus, was nahezu zwangsläufig zu Spannungen führt. Die Beziehungen untereinander sind komplex – die älteste Schwiegertochter hat Schwierigkeiten, ihren traditionellen Pflichten nachzukommen, die unverheiratete Tochter führt eine zänkische Randexistenz und der Witwe des jüngsten, früh verstorbenen Sohns Sona gesteht man wohl oder übel eine kahle Unterkunft im Erdgeschoss zu. Die Beziehungen werden nicht durch Liebe, Zuneigung oder Freundschaft bestimmt, sondern durch den traditionellen und unveränderlichen Status der Personen innerhalb der Familie. Und dann sind da noch die Nachbarn. Denn wie der englische Titel The Lives of Others schon sagt, ist nichts so spannend wie das Leben anderer Menschen. Kein Fehltritt wird übersehen oder verziehen und was erst einmal als Gerücht in Umlauf ist, kann so schnell nicht mehr aufgehalten werden und ruiniert möglicherweise den Wert auf dem Heiratsmarkt. Deswegen lautet die Maxime Repräsentation, ob die leeren Kassen der Familie das noch erlauben oder nicht. Und wenn jemand erfährt, dass einer der Enkel Naxalit und der andere heroinabhängig ist, ist sowieso alles gelaufen.

Der Roman folgt der Famile Ghosh von Prafullanaths Kindheit bis in die frühen 70er, berichtet von Siegesfeiern, Hochzeiten und Rivalitäten, von Musterkindern und missratenen Söhnen. Und von den Kämpfen der naxalitischen Bewegung gegen die Unterdrückung durch Großgrundbesitzer. Diese beiden völlig gegensätzlichen Welten werden so miteinander verwoben, dass ein stimmiges und authentisches Gesamtbild entsteht. Diese Authentizität verlangt einem manchmal aber auch einiges ab – die Familienmitglieder sprechen sich untereinander selten mit Vornamen und in aller Regel mit Verwandschaftsbezeichnungen an. Und es dauert, bis man verinnerlicht hat, wer nochmal Bhai, Didi, Dada und Bon sind. Außerdem gibt es eine ganze Reihe nicht übersetzter und wohl auch nicht immer übersetzbarer Begriffe, die aber dankenswerterweise im Glossar erklärt werden.

Wer die ersten Seiten des Romans anliest, bekommt möglicherweise einen falschen Eindruck, da er relativ brutal startet. So geht es auf gar keinen Fall weiter, von ein paar blutigen Szenen mal abgesehen. Der Rest des Romans liest sich deutlich zahmer aber durchaus spannend, auch durch die ständigen Szenenwechsel. Die Ghoshs sind keine Buddenbrooks und können es auch gar nicht sein, aber In anderen Herzen ist ein sehr solider Familienroman mit spannendem Nebenschauplatz und für mich eines der besten Bücher 2016. Eine kleine Warnung für alle, die da überhaupt keine Lust drauf haben: Es geht auch um marxistische und maoistische Theorie. Aber nur wenig.

Eine weitere Besprechung findet ihr bei letteratura.


Neel Mukherjee: In anderen Herzen. Übersetzt von Ditte Bandini und Giovanni Bandini. Kunstmann 2016. 640 Seiten, € 26,-. Originalausgabe: The Lives of Others. Chatto & Windus 2014.

Das Zitat stammt von Seite 527.

9 Gedanken zu “Neel Mukherjee: In anderen Herzen”

  1. Sehr schöne Besprechung, die dem Buch gerecht wird, wie ich finde! Danke für die Verlinkung, und ja, für mich ist es auch eins der besten Bücher bisher dieses Jahr.

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  2. Habe an sich keine Probleme mit irgendwelchen politischen Theorien oder Philosophien, solange sie interessant in die Geschichte eingewoben werden. Ein Problem wäre bei mir aber der schwülstige indische Stil: habe es nur zwei Mal geschafft ein indisches Buch zu Ende zu lesen. Das eine war eine herbe Enttäuschung und unglaublich langweilig (irgendein zur damaligen Zeit sehr populäres Buch – erinnere mich nicht an den Namen) und das Ramayana – und bis man sich im Ramayana durchgekämpft hat durch die ganzen Ehrenbezeichnungen („Oh, du Zerschmetterer deiner Feinde“ usw.) hat man mindestens zwölf Seiten hinter sich gebracht.

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    1. Das Ramayana hab ich nie gelesen, aber vermutlich ist es nicht weniger sperrig, als andere Nationalepen. Andere Texte aus dem Sanskrit, die ich gelesen habe, fand ich aber auch oft schwierig, mag an der langen Zeit liegen, die zwischen mir und der Entstehungszeit liegt.
      Mukherjee allerdings fand ich überhaupt nicht schwülstig. Generell finde ich, dass man das über wenige zeitgenössische indische Texte sagen kann. Man merkt natürlich, dass sie aus einer anderen Erzählkultur kommen, aber wirklich gescheitert bin ich bisher nur an Salman Rushdie (Mitternachtskinder). Und das lag weniger an seinem Stil als am magischen Realismus, den ich einfach nicht kann, in egal welchem Text.

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      1. Ich denke (und dem ist wohl auch so), dass jede Kultur und jede Epoche ihre eigenen Themen und Motive hat – die natürlich ihren Reiz haben sich aber mit der Zeit allerdings auch abwetzen. Heute würde auch niemand mehr ein Epos im Hexameter schreiben oder Halbgötter schreiben. Andere Themen sind natürlich universal (Liebe, Hass und Neid), doch wird jeder einen anderen Schwerpunkt darauf setzen.
        Was hast du gegen magischen Realismus im speziellen?

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        1. Da stimme ich dir zu – viele Themen bleiben, andere werden weniger wichtig oder verschwinden, oft ändert sich aber nur die Darstellungsweise. Helden beispielsweise werden heute völlig anders dargestellt als noch vor einigen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten. Die Idee bleibt aber im Kern die gleiche. Offenbar ist die Menschheit recht konstant mit den gleichen Dingen befasst, die nur anders ausgedrückt werden.

          Was ich gegen magischen Realismus habe, ist eine gute Frage. Es stört mich, wenn Dinge in einem Roman nicht auf „normale“, also realistische Art erklärt werden. Wenn ich (was sehr selten passiert) SciFi oder Fantasy-Romane lese, ist das natürlich völlig okay, dann ist das der Deal. Dann spielt der Roman eben in einer Welt, in der Menschen fliegen können oder Superkräfte haben oder eine Technik, die ihnen das Leben auf dem Mond erlaubt. In jedem anderen Text stört es mich aber, wenn die Dinge nicht erklärbar sind. Es ist in Ordnung, wenn sie vorübergehend obskur sind. Wenn also jemand vorgeblich Gedanken lesen kann, Dinge verschwinden oder auftauchen usw. und das alles auf den ersten Blick nicht erklärbar ist. Irgendwann will ich aber eine Auflösung und ich will bitte eine gute Erklärung dafür haben. „Naja, der kann halt Gedanken lesen“ ist nicht okay. Daran scheitere ich oft auch bei Murakami und bei vielen lateinamerikanischen Schriftstellern und eben auch bei Rushdie.

          Dafür kann der magische Realismus nichts, es ist einfach nicht die Art, wie Geschichten für mich funktionieren. Ich warte auf den Taschenspielertrick der dahinter steckt und kriege keinen und dann bin ich enttäuscht. Ich will eine drei ???-Aufklärung, in der am Ende ein Betrüger alles eingefädelt hat. Ich habe vor Jahren mal ein Buch gelesen, in dem ein Junge immer wieder verschwindet, manchmal über Tage. Dann taucht er wieder auf und sagt, er wisse nicht, wo er war. Alle sind aufgeregt, rufen die Polizei, dann taucht er aber wieder auf und will nicht sagen, was war. Klingt spannend, ne? Und dann war er die ganze Zeit weg, weil er sich einen Stuhl verwandelt hat! In einen verdammten Stuhl, der die ganze Zeit mitten im Zimmer stand und keiner hats gemerkt! Ehrlich – da fühle ich mich um die Story betrogen. Andere nicht, die finden das super und freuen sich, dass der Kerl jetzt ein Stuhl ist. Die freuen sich, wenn Leute halt mit Katzen reden können oder telepathisch kommunizieren. Ich nicht, ich bin da raus. Aber wie gesagt – das kann man nicht dem magischen Realismus per se ankreiden.

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          1. Ja, gut. Das ist natürlich immer eine Sache wie man eine Geschichte rüberbringt. Ich mag einen konsequenten und harmonischen Handlungsverlauf. Und wenn der Schriftsteller uns gut vermitteln kann, dass die Handlungskonsequenz daraus besteht, dass sich ein Kind in einen Stuhl verwandelt, dann würde ich sagen okay (glaube aber nicht aufgrund deiner Ausführung, dass dem der Fall gewesen ist). Aber was ich immer schlimm finde ist, wenn das Ende an den Haaren herbeigezogen wird und es nicht richtig zum Rest der Geschichte passt. Oder aber wenn die Geschichte nirgendwo hinführt (Wie Tonke Dragts „Tigeraugen“). Kann so manches dem Schreiber verzeihen, aber ab dem Punkt hört es eigentlich für mich auf.

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            1. Bei mir hört es völlig auf, wenn die Auflösung ist „war alles nur ein Traum“. Ehrlich, ich les nicht ein ganzes Buch um das Ende vorgesetzt zu kriegen. Passiert zum Glück nur selten.

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            2. Oh, ja dass sind wirklich die schlimsten! Man wird um die ganze Handlung betrogen. Wie wichtig war dann das erlebte für den Protagonisten oder den Leser? Es ist allerdings dann interessant, wenn irgendwie nicht ganz klar ist ob es nun Traum oder Realität ist und sich dadurch einige philosophische Fragen ergeben. Aber meistens ist „Es war alles nur ein Traum“ nur eine ziemlich faule Auflösung und dazu auch noch plump umgesetzt. Und ich weiß noch wie wir damals in der Schule gezwungen wurden, genau solche Geschichten zu schreiben – furchtbar!

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